Der deutsche Markt für nachhaltige Investments erlebt derzeit eine Entwicklung, die viele Anleger verunsichern dürfte: Nachhaltige Fonds, investieren zunehmend in Rüstungsunternehmen. Was die Branche als pragmatische Anpassung an veränderte geopolitische Realitäten verkauft, wirft leider fundamentale Fragen über die Glaubwürdigkeit nachhaltiger Geldanlage auf. Stehen wir vor einer notwendigen Evolution des ESG-Gedankens oder erleben wir in einer bedauernswerten Art und Weise die schleichende Verwässerung echter und vor allem notwendigen Nachhaltigkeitsstandards?
Der regulatorische Dammbruch
Ende 2024 fiel eine wichtige Barriere: Die bisherige Regel, die Investitionen in Unternehmen mit mehr als 10 Prozent Umsatzanteil aus Rüstungsgeschäften untersagte, wurde ersatzlos gestrichen. Übrig blieb lediglich das Verbot von Investitionen in Hersteller völkerrechtlich geächteter Waffen – eine Einschränkung, die ohnehin schon aus ethischen und rechtlichen Gründen selbstverständlich sein sollte.
Diese regulatorische Lockerung mag vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs und verschärfter geopolitischer Spannungen nachvollziehbar erscheinen. Doch sie offenbart ein grundsätzliches Problem: ESG-Standards werden offenbar als Luxus betrachtet, den man sich nur in Friedenszeiten leisten kann. Diese Haltung untergräbt das Vertrauen in die Beständigkeit nachhaltiger Anlagekriterien und lässt Zweifel an der grundsätzlichen Ernsthaftigkeit der Branche aufkommen. Nachhaltige Fonds verkommen so mehr mehr zu einem „Pseudo“-Produkt.
Drei Wege – aber nur einer führt zu echter Nachhaltigkeit
Die Reaktionen der Anbieter nachhaltiger Fonds auf die regulatorischen Änderungen fallen erwartungsgemäß unterschiedlich aus, doch nur eine Herangehensweise bleibt dem ursprünglichen Nachhaltigkeitsgedanken treu:
Die Prinzipientreuen
Kirchennahe Gesellschaften und einige werte-orientierte Anbieter von nachhaltigen Investmentfonds halten an ihrem grundsätzlichen Rüstungsausschluss fest. Diese Haltung verdient Respekt, denn sie zeigt, dass nachhaltige Geldanlage mehr sein kann als ein Marketinginstrument. Wer Nachhaltigkeit ernst nimmt, lässt sich nicht von kurzfristigen politischen Entwicklungen von seinen Grundsätzen abbringen.
Die Opportunisten
Eine große Gruppe von Anbietern nutzt die neue Regelung, um ihre Investment-Universen zu erweitern, während sie gleichzeitig den Nachhaltigkeitsanspruch aufrechterhalten. Investitionen in Unternehmen mit „geringem“ Rüstungsanteil – typischerweise bis zu 10 Prozent – werden als Kompromiss verkauft. Doch wo war diese Flexibilität, als es um andere kontroverse Branchen ging? Hier darf sich der einer oder andere Anbieter durchaus einmal selbst hinterfragen.
Die Pragmatiker ohne Prinzipien
Am problematischsten sind Anbieter, die bei bestimmten Produkten komplett auf Rüstungsausschlüsse verzichten und dies als evolutionäre Weiterentwicklung des Nachhaltigkeitsgedankens vermarkten. Hier wird deutlich, wie beliebig ESG-Kriterien interpretiert werden können, wenn es den Geschäftsinteressen dient.
Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache
Die Portfolioveränderungen im ersten Halbjahr 2025 dokumentieren, wie schnell sich scheinbar feste Nachhaltigkeitsstandards auflösen können. Bei aktiv verwalteten Artikel-8-Aktienfonds stieg der Anteil von Rüstungs- und Aerospace-Unternehmen von 0,8 auf 1,3 Prozent – eine Steigerung um mehr als die Hälfte in nur sechs Monaten.
Besonders drastisch fällt die Entwicklung bei Deutschland-fokussierten Fonds aus: Ein Portfolioanteil von 4,6 Prozent in der Verteidigungsbranche macht deutlich, dass hier nicht mehr von nachhaltiger Nischenstrategie gesprochen werden kann. Unternehmen wie Rheinmetall, deren Geschäftsmodell sich primär um die Produktion von Waffen dreht, finden sich nun in Produkten wieder, die Anlegern als nachhaltige Investments verkauft werden.
Selbst bei Artikel-9-Fonds, die eigentlich die Speerspitze nachhaltiger Geldanlage repräsentieren sollten, wurde erstmals ein messbares Engagement in der Rüstungsbranche gemeldet. Wenn sogar diese Produkte ihre Standards aufweichen, stellt sich die Frage: Was bedeutet „nachhaltig“ heute noch?
Internationale Perspektive: Deutschland holt beim Aufrüsten auf
Der internationale Vergleich zeigt, dass deutsche ESG-Fonds bisher zurückhaltender agierten als ihre europäischen Pendants. Während europäische Artikel-8/9-Fonds bereits knapp 2 Prozent in Aerospace & Defence investieren, lag der deutsche Durchschnitt darunter. Doch diese „Nachhaltigkeitslücke“ schließt sich zusehends – allerdings in die falsche Richtung.
Statt als Vorbild für strenge Nachhaltigkeitsstandards zu fungieren, orientiert sich der deutsche Markt an den bereits verwässerten internationalen Standards. Ein Wettlauf nach unten, bei dem am Ende die Anleger die Verlierer sind, die auf echte nachhaltige Investments vertraut hatten.
Der Markt spricht: 1,2 Billionen Euro auf dem Prüfstand
Mit über 1,2 Billionen Euro verwalteten Vermögens in Artikel-8- und -9-Fonds zeigt sich die enorme Dimension des Problems. Hinter diesen beeindruckenden Zahlen stehen Millionen von Anlegern, die bewusst nachhaltige Produkte gewählt haben – und nun erleben müssen, wie sich die Standards unter ihren Füßen verändern.
Besonders bedenklich ist die Entwicklung bei Spezialfonds: Mit über 460 Milliarden Euro zeigen institutionelle Investoren, dass auch sie die neuen „flexibleren“ Standards zu schätzen wissen. Hier stellt sich die Frage, ob institutionelle Anleger wie Pensionsfonds und Versicherungen ihren eigenen Nachhaltigkeitsverpflichtungen noch gerecht werden können, wenn sie in verwässerte ESG-Produkte investieren. Gewisse Zweifel sind hier durchaus angebracht!
Anlegerverhalten: Die Abstimmung mit den Füßen
Die Kapitalflüsse im ersten Halbjahr 2025 erzählen eine bemerkenswerte Geschichte: Während konventionelle Publikumsfonds fast 50 Milliarden Euro an Neu-Investitionen einsammeln konnten, verzeichneten nachhaltige Produkte Abflüsse von 1,3 Milliarden Euro. Diese Entwicklung ist mehr als nur ein vorübergehender Trend – sie spiegelt das schwindende Vertrauen der Anleger in die Glaubwürdigkeit nachhaltiger Investments wider.
Besonders aufschlussreich ist das Verhalten institutioneller Investoren: Sie investierten mehr als dreimal so viel neues Geld in konventionelle Fonds wie in ESG-Produkte. Wenn selbst professionelle Investoren, die eigentlich über die nötigen Ressourcen für eine fundierte Analyse verfügen, nachhaltige Produkte meiden, spricht das Bände über die Qualität und Glaubwürdigkeit des aktuellen Angebots.
Die Verwässerung hat System
Die aktuellen Entwicklungen sind kein Einzelfall, sondern Teil einer systematischen Aufweichung von ESG-Standards. Bereits in der Vergangenheit mussten Anleger erleben, wie Nachhaltigkeitskriterien je nach Marktlage und Geschäftsinteressen angepasst wurden. Die Rüstungsdebatte ist nur das jüngste Beispiel für die Beliebigkeit, mit der manche Anbieter ihre „Nachhaltigkeit“ definieren.
Diese Entwicklung schadet nicht nur den betroffenen Anlegern, sondern untergräbt das Vertrauen in nachhaltige Geldanlage als Ganzes. Wenn ESG-Standards je nach politischer Großwetterlage angepasst werden, verlieren sie ihre Orientierungsfunktion und verkommen zu reinen Marketinginstrumenten.
Was echte Nachhaltigkeit bedeutet
Echte nachhaltige Geldanlage sollte sich durch Beständigkeit und Prinzipientreue auszeichnen. Nachhaltigkeit ist kein Fairwetter-Konzept, das bei der ersten Herausforderung über Bord geworfen wird. Wer heute Rüstungsinvestments als nachhaltig umdefiniert, wird morgen vielleicht Kohlekraftwerke als „Brückentechnologie“ rechtfertigen oder Tabakkonzerne wegen ihrer „digitalen Transformation“ in ESG-Portfolios aufnehmen.
Anleger, die echte nachhaltige Investments suchen, sollten daher genau hinschauen: Welche Ausschlusskriterien gelten wirklich? Wie beständig sind diese Standards? Und vor allem: Steht hinter dem Anbieter eine klare Werteorientierung oder nur geschicktes Marketing?
Die Alternative: Konsequente Nachhaltigkeit ohne Kompromisse
Während große Teile der Fondsbranche ihre Standards verwässern, bieten spezialisierte Anbieter eine Alternative: konsequent nachhaltige Investments ohne politisch motivierte Kompromisse. Diese Anbieter verstehen Nachhaltigkeit als ganzheitliches Konzept, das auch in schwierigen Zeiten Bestand hat.
Moderne Robo-Advisor-Technologie ermöglicht es dabei, auch mit konsequenten Ausschlusskriterien breit diversifizierte Portfolios aufzubauen. Algorithmische Ansätze können die emotionalen und politischen Einflüsse minimieren, die traditionelle Fondsmanager zu Kompromissen bei ihren Standards verleiten.
Zukunftsperspektive: Spaltung des ESG-Marktes
Die beschriebenen Entwicklungen deuten auf eine Spaltung des Marktes für nachhaltige Geldanlage hin. Auf der einen Seite werden sich „ESG-light“-Produkte etablieren, die je nach Marktlage und politischen Präferenzen ihre Standards anpassen. Auf der anderen Seite wird es einen Kern von Anbietern geben, die an konsequenten Nachhaltigkeitskriterien festhalten.
Für Anleger bedeutet dies: Die Marke „ESG“ allein wird nicht mehr ausreichen. Sie müssen sich intensiver mit den tatsächlichen Anlagekriterien und der Philosophie der Anbieter auseinandersetzen. Die Due Diligence bei nachhaltigen Investments wird anspruchsvoller – aber auch wichtiger.
Fazit: Nachhaltigkeit in der Glaubwürdigkeitskrise
Die Entwicklungen im ersten Halbjahr 2025 markieren einen Wendepunkt für nachhaltige Geldanlage in Deutschland – leider nicht zum Besseren. Die Aufweichung der Rüstungsausschlüsse zeigt exemplarisch, wie schnell scheinbar feste ESG-Standards der Realpolitik geopfert werden können.
Diese Flexibilität mag einzelnen Fondsgesellschaften kurzfristig dabei helfen, ihre Geschäfte auszuweiten. Langfristig schadet sie jedoch dem gesamten Sektor nachhaltiger Geldanlage. Wenn Nachhaltigkeitskriterien beliebig interpretierbar werden, verlieren sie ihre Orientierungsfunktion und das Vertrauen der Anleger.
Die negativen Mittelflüsse sind bereits ein deutliches Signal: Anleger wenden sich von verwässerten ESG-Produkten ab. Dieser Trend wird sich fortsetzen, solange die Branche nicht zu glaubwürdigen und beständigen Standards zurückfindet.
Für Anleger, die echte nachhaltige Investments suchen, bedeutet dies: Mehr denn je kommt es darauf an, Anbieter zu finden, die Nachhaltigkeit nicht als Marketing-Tool, sondern als fundamentale Überzeugung verstehen. Nur wer auch in schwierigen Zeiten zu seinen Prinzipien steht, verdient das Vertrauen nachhaltigkeitsorientierter Investoren.
Die Zukunft der nachhaltigen Geldanlage wird davon abhängen, ob sie es schafft, ihre Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen. Dazu gehört vor allem eins: Ehrlichkeit darüber, was nachhaltig ist – und was nicht.
Prokurist und Leiter Portfoliomanagement, Wirtschaftsinformatiker (EBS), über 25 Jahre Erfahrung als Händler (Eurex-, Xetra- und NASD-Lizenz) und Portfolio- und Fondsmanager u.a. für Absolute-Return-Produkte bei Investmentboutiquen. Seit 2009 bei der FiNet Asset Management GmbH in Marburg als Fonds- und Portfoliomanager tätig.
Frank Huttel ist spezialisiert u.a. auf Produktentwicklung und der Fondsauswahl und hat fundiertes Know-how im klassischen sowie alternativen Asset-Management. Seit 2019 ist er SRI-Advisor (EBS) und Climate Reality Leader (2018). Außerdem ist er Mitinitiator von vividam, dem nachhaltigen Robo-Advisor.