Die ESG (Umwelt, Soziales und Governance) Vorschriften beziehungsweise ESG Anforderungen haben in den vergangenen Jahren in der Finanzindustrie eine rapide wachsende Bedeutung erlangt. Unternehmen und Investoren weltweit streben vermehrt danach, Nachhaltigkeitsaspekte in ihre Geschäftspraktiken zu integrieren. Allerdings besteht innerhalb der Finanzindustrie nach wie vor eine gewisse Ambivalenz gegenüber diesen Vorschriften.
Die ESG-Vorgaben haben das Ziel, Unternehmen in den Bereichen Umwelt, Soziales und verantwortungsvolle Unternehmensführung zu verbessern. Diese Regularien gelten gleichermaßen für die Finanzbranche und bieten eine einzigartige strategische Chance. Denn hierbei geht es nicht nur darum, gesetzliche Vorschriften zu erfüllen, sondern auch darum, neue Geschäftsfelder zu erschließen und gezielt neue Zielgruppen anzusprechen. Dieser Paradigmenwechsel erfordert von Finanzunternehmen nicht nur die bloße Einhaltung von Vorschriften, sondern bietet die Möglichkeit, unternehmerische Verantwortung zu demonstrieren und zugleich langfristigen wirtschaftlichen Erfolg zu sichern. Doch dies scheint bei so manch einem Unternehmen nicht so gesehen zu werden.
Denn eine international durchgeführte Umfrage der angesehenen Wirtschaftskanzlei Simmons & Simmons unter Finanzunternehmen gewährt nun Einblicke in deren Haltung gegenüber den ESG-Anforderungen. Hierbei wird klar, dass, obwohl die positiven Aspekte durchaus anerkannt werden, die Umsetzung jedoch eher aus einem Gefühl der Verpflichtung heraus erfolgt. Diese Tendenz lässt sich auf einen simplen, jedoch entscheidenden Grund zurückführen.
ESG Anforderungen: Unternehmen sehen sich vom Gesetzgeber und Investoren beim Thema Nachhaltigkeit „gedrängt“
Die Umfrageergebnisse verdeutlichen, dass 82 Prozent der befragten Finanzunternehmen eher aus einem Pflichtgefühl gegenüber dem Gesetzgeber oder Investoren handeln und sich von diesen zu nachhaltigen Investitionen gedrängt fühlen. Dabei steht weniger die Chance für zusätzliches Wachstum im Vordergrund. Im Gegensatz dazu stimmen 69 Prozent der Befragten der Aussage zu, dass ihr Unternehmen vorrangig in nachhaltige Projekte investiert, um Wachstumsziele wie etwa steigende Gewinne zu verfolgen. In anderen Branchen, wie beispielsweise Gesundheit, Technologie & Telekommunikation, Energie sowie Immobilien & Infrastruktur, stehen hingegen Wachstumsziele im Zusammenhang mit ESG-Aktivitäten im Fokus.
Interessanterweise sind in der Finanzindustrie die meisten Befragten von den positiven Auswirkungen nachhaltiger Investitionen überzeugt. 89 Prozent stimmen zu, dass Unternehmen, die am effektivsten in Nachhaltigkeit investieren, in den nächsten fünf bis zehn Jahren finanziell am besten abschneiden werden. Zudem gehen 79 Prozent davon aus, dass ein nachhaltiges Engagement die Erschließung neuer Zielgruppen ermöglichen kann. Diese Ergebnisse unterstreichen die wachsende Überzeugung innerhalb der Finanzbranche hinsichtlich der langfristigen finanziellen Vorteile durch konsequente Nachhaltigkeitsstrategien.
Angst vor dem Makel des „Greenwashings“ ist in Unternehmen sehr ausgeprägt
Wenn die Vorteile also erkannt werden, stellt sich die Frage, warum sich die Befragten dennoch eher verpflichtet fühlen, die Vorgaben umzusetzen. Dies lässt sich auf einen einfachen Grund zurückführen: Die Befürchtung von Rechtsstreitigkeiten im Zusammenhang mit ESG oder der Anschuldigung des „Greenwashings“ wiegt besonders schwer in Finanzunternehmen. Dies zeugt auch von einer gewissen Unsicherheit hinsichtlich der Auslegung der geltenden Regularien, insbesondere in Bezug darauf, wo genau „Greenwashing“ beginnt. Das aktive Auseinandersetzen mit bestehenden und zukünftigen Vorschriften ist daher ein entscheidender Faktor, um langfristig rechtssicher zu agieren. Dr. Harald Glander, Partner bei Simmons & Simmons mit Schwerpunkt Asset Management, Fonds und ESG-Regulatorik, erläutert die Umfrageergebnisse.
Die Befragten betrachten demnach Rechtsstreitigkeiten oder Strafen als das größte Risiko, wenn die ESG-Regularien nicht eingehalten werden (58 Prozent). Dies wird gefolgt von der Besorgnis, durch unzureichende Nachweise Investitionen zu verlieren (47 Prozent) sowie der Angst, als „Greenwasher“ wahrgenommen zu werden und dadurch Reputation einzubüßen (41 Prozent). Diese Ergebnisse verdeutlichen die drängenden Herausforderungen, denen sich Finanzunternehmen in Bezug auf die Umsetzung von ESG-Vorschriften gegenübersehen und unterstreichen die Notwendigkeit einer präzisen und vorausschauenden Einhaltung dieser Richtlinien, um rechtliche Sicherheit zu gewährleisten und das Vertrauen der Investoren zu stärken.
Unternehmen sehen wesentlichen Bedarf bei der Stärkung der ESG Kompetenz im eigenen Haus
Die vorhandene Besorgnis scheint auf eine konkrete Ursache zurückzuführen zu sein: Nur 59 Prozent der befragten Finanzunternehmen betrachten ihr eigenes Unternehmen als gut positioniert, um die geltenden Vorschriften bezüglich „Greenwashing“ zu erfüllen.
Wie also sollte man sich in dieser Situation verhalten? Der beste Ansatz beginnt möglicherweise im eigenen Unternehmen: 61 Prozent sind der Meinung, dass die Fachkompetenz im eigenen Haus in diesem Bereich gestärkt werden sollte. Dies impliziert vor allem, dass qualifizierte Fachkräfte mit fundierten Erfahrungen im Bereich Nachhaltigkeitsprojekte eingestellt werden sollten. Eine größere Transparenz entlang der Wertschöpfungskette mit Kunden, Lieferanten und Investoren wird von 54 Prozent der Finanzdienstleister als nützlich erachtet. Zusätzlich wünschen sich 49 Prozent einen intensiveren Dialog mit der Politik hinsichtlich der ESG-Gesetzgebung.
Diese Ergebnisse unterstreichen die Notwendigkeit für Finanzunternehmen, nicht nur auf externe Vorschriften zu reagieren, sondern auch aktiv ihre internen Strukturen und Kompetenzen zu stärken. Durch den Fokus auf die Qualifikation des Personals, die Förderung von Transparenz und die enge Zusammenarbeit mit politischen Entscheidungsträgern können Finanzinstitutionen effektiv auf die Herausforderungen im Zusammenhang mit ESG-Richtlinien reagieren und gleichzeitig das Vertrauen in ihre Nachhaltigkeitspraktiken stärken.
Prokurist und Leiter Portfoliomanagement, Wirtschaftsinformatiker (EBS), über 25 Jahre Erfahrung als Händler (Eurex-, Xetra- und NASD-Lizenz) und Portfolio- und Fondsmanager u.a. für Absolute-Return-Produkte bei Investmentboutiquen. Seit 2009 bei der FiNet Asset Management GmbH in Marburg als Fonds- und Portfoliomanager tätig.
Frank Huttel ist spezialisiert u.a. auf Produktentwicklung und der Fondsauswahl und hat fundiertes Know-how im klassischen sowie alternativen Asset-Management. Seit 2019 ist er SRI-Advisor (EBS) und Climate Reality Leader (2018). Außerdem ist er Mitinitiator von vividam, dem nachhaltigen Robo-Advisor.