In der Welt der nachhaltigen Investments zeichnet sich ein bedeutender Wandel ab. Angesichts geopolitischer Spannungen und regulatorischer Anpassungen überdenken Finanzinstitute und Verbände ihre Positionen zur Rüstungsindustrie im Kontext von ESG-Kriterien (Environmental, Social, Governance). Diese Entwicklung markiert einen potenziellen Wendepunkt in der Integration von Nachhaltigkeitsaspekten in Investitionsentscheidungen und wirft grundlegende Fragen zur Definition und Umsetzung von Nachhaltigkeit in der Finanzwelt auf.
Neuausrichtung der Ausschlusskriterien und Harmonisierung mit EU-Standards
Deutsche Banken- und Fondsverbände erwägen eine substanzielle Lockerung der bislang strikten Ausschlusskriterien für Investitionen in konventionelle Rüstungsgüter bei als nachhaltig deklarierten Anlageprodukten. Die Deutsche Kreditwirtschaft (DK) betont, dass diese Überlegungen auf aktuellen politischen Entwicklungen sowie neuen regulatorischen Vorgaben basieren. Konkret könnte dies bedeuten, dass konventionelle Rüstungsgüter künftig in nachhaltige Anlageprodukte integriert werden, während Investitionen in völkerrechtlich geächtete Waffen weiterhin kategorisch ausgeschlossen bleiben. Die finale Umsetzung dieser Pläne bedarf noch der Zustimmung der zuständigen Aufsichtsbehörden.
Der Deutsche Fondsverband BVI sieht in dieser Neuausrichtung einen wichtigen Schritt zur EU-weiten Standardisierung der Mindestanforderungen an nachhaltige Fonds. Diese Einschätzung basiert auf der Angleichung an die kürzlich veröffentlichten Leitlinien der europäischen Wertpapieraufsicht ESMA, die lediglich Investitionen in Unternehmen untersagen, die an Aktivitäten im Zusammenhang mit umstrittenen Waffen beteiligt sind, nicht jedoch in die Rüstungsindustrie als Ganzes. Gleichzeitig bleiben Investitionen in Tabak, geächtete Waffen sowie Unternehmen, die gegen soziale Normen und Menschenrechte verstoßen, weiterhin ausgeschlossen. Diese Harmonisierung zielt darauf ab, einen kohärenteren europäischen Markt für nachhaltige Finanzprodukte zu schaffen und gleichzeitig auf veränderte geopolitische Realitäten zu reagieren.
Politischer und ökonomischer Kontext
Die Neubewertung der Rüstungsindustrie im Rahmen nachhaltiger Investments steht im Kontext breiterer politischer und ökonomischer Entwicklungen. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die sicherheitspolitische Lage in Europa fundamental verändert und die Bedeutung einer robusten Verteidigungsfähigkeit unterstrichen. In diesem Zusammenhang drängt die Europäische Kommission auf eine Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Verteidigungsindustrie. In ihrer kürzlich vorgelegten Industriestrategie für den Verteidigungsbereich betont die Kommission, dass ESG-Bedenken private Investitionen in die Verteidigungsindustrie nicht behindern sollten.
Auch die Europäische Investitionsbank (EIB) hat Sicherheit und Verteidigung zu Prioritäten erklärt und ihre Investitionskriterien entsprechend angepasst. Dies signalisiert eine breitere Akzeptanz der Verteidigungsindustrie als legitimes Investitionsziel. Der Bericht von Mario Draghi zur Wettbewerbsfähigkeit Europas unterstreicht zusätzlich die Notwendigkeit, Klarheit bezüglich der Rolle der Verteidigungsindustrie im Kontext nachhaltiger Investments zu schaffen. Diese Faktoren verdeutlichen, dass die Diskussion um nachhaltige Investments nicht isoliert von breiteren geopolitischen und ökonomischen Trends betrachtet werden kann.
Kontroverse in der Nachhaltigkeitsdebatte
Die potenzielle Einbeziehung der Rüstungsindustrie in nachhaltige Anlagestrategien ist Gegenstand kontroverser Debatten. Prof. Christian Klein von der Universität Kassel weist darauf hin, dass Rüstung in empirischen Studien konsistent zu den von nachhaltigen Anlegern ausgeschlossenen Sektoren zählt – auch nach Beginn des Ukraine-Kriegs. Dies deutet auf eine mögliche Diskrepanz zwischen politischen Bestrebungen und Anlegerpräferenzen hin.
Verena Menne vom Forum Nachhaltige Geldanlagen (FNG) kritisiert die Vermischung von Sicherheits- und Nachhaltigkeitsaspekten. Sie argumentiert, dass die Nachhaltigkeitsdebatte wissenschaftsbasiert und nicht politisch motiviert, geführt werden sollte. Aus ihrer Sicht verursacht die Rüstungsindustrie nach gängigen Klassifikationen einen „signifikanten Schaden“, was im Widerspruch zu Nachhaltigkeitsprinzipien steht. Menne warnt vor der Gefahr, dass die Integrität des Nachhaltigkeitskonzepts durch die Einbeziehung der Rüstungsindustrie verwässert werden könnte.
Die EU-Kommission vertritt hingegen die Position, dass die Verteidigungsindustrie, abgesehen von geächteten Waffen, durch ihren Beitrag zu Resilienz, Sicherheit und Frieden indirekt Nachhaltigkeit fördert. Diese Sichtweise verdeutlicht die Komplexität der Debatte und die Notwendigkeit, Nachhaltigkeit im breiteren Kontext gesellschaftlicher Stabilität zu betrachten.
Implikationen für Investoren und die Finanzbranche
Für Anleger und Finanzinstitute ergeben sich aus dieser Entwicklung weitreichende Konsequenzen. Investoren müssen ihre Sorgfaltspflicht bei der Auswahl nachhaltiger Finanzprodukte intensivieren und die spezifischen Ausschlusskriterien und Investitionsstrategien einzelner Fonds genauer überprüfen. Finanzdienstleister stehen vor der Herausforderung, ihre Produktpalette zu diversifizieren, um unterschiedlichen Nachhaltigkeitspräferenzen gerecht zu werden. Die Deutsche Kreditwirtschaft betont, dass weiterhin Produkte angeboten werden, die über die neuen Mindeststandards hinausgehen.
Transparenz und klare Kommunikation gewinnen an Bedeutung, um das Vertrauen der Anleger zu wahren und regulatorische Anforderungen zu erfüllen. Fondsanbieter müssen ihre Investitionsstrategien und ESG-Kriterien deutlich darlegen. Gleichzeitig sind Finanzinstitute gefordert, Risiken und Chancen im Verteidigungssektor neu zu evaluieren, wobei sowohl finanzielle als auch ESG-bezogene Faktoren zu berücksichtigen sind. Dies erfordert eine Anpassung interner Bewertungs- und Auswahlprozesse für nachhaltige Investments, um die potenziell veränderten Kriterien zu reflektieren.
Fazit und Ausblick
Die potenzielle Einbeziehung der Rüstungsindustrie in nachhaltige Anlagestrategien markiert einen Paradigmenwechsel in der ESG-Landschaft. Sie reflektiert die komplexen Wechselwirkungen zwischen geopolitischen Realitäten, ökonomischen Interessen und ethischen Erwägungen. Für die Finanzbranche ergibt sich daraus die vielschichtige Herausforderung, Sicherheitsaspekte und Nachhaltigkeitsziele in Einklang zu bringen, ohne die Integrität des ESG-Konzepts zu kompromittieren.
Die zukünftige Entwicklung wird maßgeblich davon abhängen, wie Regulierungsbehörden, Finanzinstitute und Investoren diese Neuausrichtung in der Praxis umsetzen. Entscheidend wird sein, ob es gelingt, einen ausgewogenen Ansatz zu finden, der sowohl den veränderten sicherheitspolitischen Anforderungen als auch den ethischen Ansprüchen nachhaltiger Investments gerecht wird.
Letztendlich könnte diese Debatte zu einer nuancierten und kontext-bezogeneren Interpretation von Nachhaltigkeit in der Finanzwelt führen. Eine solche Interpretation würde über simplifizierende Ausschlusskriterien hinausgehen und die komplexen Interdependenzen globaler Herausforderungen berücksichtigen. Dies erfordert einen fortlaufenden Dialog zwischen allen Beteiligten, um ein Gleichgewicht zwischen ethischen Prinzipien, ökonomischen Realitäten und sicherheitspolitischen Notwendigkeiten zu finden.
Prokurist und Leiter Portfoliomanagement, Wirtschaftsinformatiker (EBS), über 25 Jahre Erfahrung als Händler (Eurex-, Xetra- und NASD-Lizenz) und Portfolio- und Fondsmanager u.a. für Absolute-Return-Produkte bei Investmentboutiquen. Seit 2009 bei der FiNet Asset Management GmbH in Marburg als Fonds- und Portfoliomanager tätig.
Frank Huttel ist spezialisiert u.a. auf Produktentwicklung und der Fondsauswahl und hat fundiertes Know-how im klassischen sowie alternativen Asset-Management. Seit 2019 ist er SRI-Advisor (EBS) und Climate Reality Leader (2018). Außerdem ist er Mitinitiator von vividam, dem nachhaltigen Robo-Advisor.